"Die Literaturgeschichte pflegt dem System der Formen nicht viel Aufmerksamkeit zu schenken. Sie pflegt heute die 'Geistesgeschichte' zu bevorzugen, deren leitende Gesichtspunkte für gewöhnlich fremden Disziplinen entnommen werden. Dabei wird übersehen, daß die Analyse der literarischen Formen selbst zu Einsichten geistesgeschichtlicher Art führen kann. [...] Formen sind Gestalten und Gestaltsysteme, in denen Geistiges zur Erscheinung gelangt und faßbar wird. Dante braucht Lichtkreise und Lichtkreuze, um die Seligen aufzureihen. Ein Kristall besteht aus einem Raumgitter von Elektronen und Atomkernen. Mathematik und Optik verwenden den Begriff des Gitters (Begriff? Metapher? Braucht die Naturforschung Metaphern?). Literarische Formen erfüllen die Funktionen von solchen Gittern. Wie sich diffuses Licht in der Linse sammelt, wie Kristalle 'anschießen', so kristallisiert sich poetische Substanz an einem Gestaltschema."

Ernst Robert Curtius :
Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1947]
Tübingen und Basel, Francke, 1993, 394.